Lucien Febvre stellt in dem 1931 zusammen mit Albert Demangeon herausgegebenen Buch "Le Rhin. Problèmes d`histoire et de L`économie" fest:

"Die große Besonderheit des Rheins - von den Anfängen der menschlichen Geschichte bis zur Entfaltung der modernen Zivilisation - besteht in seiner Fähigkeit zu verbinden und anzunähern. Auch nationale Leidenschaften haben diese Fähigkeit nie zerstören können. Vielmehr hat sie sich in allen Jahrhunderten auf das Leben und Wirken der menschlichen Gesellschaften ausgewirkt.

Als unvergleichliche Wasserstraße beherrscht der Rhein heute das wirtschaftliche Leben aller Länder, die er durchquert. Er bietet ihnen ein Verkehrssytem, das in Europa einzigartig ist und das an seinen Ufern mächtige urbane, kommerzielle und industrielle Zentren hervorgebracht hat. In unseren von der Ökonomie und nicht mehr vom Primat der Politik beherrschten Gesellschaften schafft er zwischen seinen Anrainern - von den Bergen bis zum Meer - eine Interessengemeinschaft, eine internationale Assoziation. Allerdings muß der Historiker darauf hinweisen, daß der Rhein die Menschen nicht immer nur miteinander verbunden, sondern gelegentlich auch getrennt und gespalten hat. Neben der leuchtenden und fruchtbaren Wasserstraße gab es auch die blutige und unfruchtbare Grenze. Ohne die kriegerischen Zwangsläufigkeiten zu verschweigen, haben wir jedoch versucht, in der Geschichte des Rheins vor allem die menschlichen Kontakte, geistigen Verständigungen und materiellen Tauschbeziehungen zu erhellen.

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So schreitet die Geschichte voran. Und der Rhein bleibt ein Strom, der verbindet, trotz aller politischen Haßgefühle und Konflikte. Welcher Staat könnte ihn heute noch für sich allein beanspruchen? Moralisch bedürfte es dazu einer besseren Begründung, als nur der Absicht, einen Mythos zu konkretisieren und kollektive Wunschträume zu verwirklichen. Vor allem aber müßte man die Absatzmärkte kontrollieren, die jenseits der Alpenpässe liegen, aus denen die Schweiz entstand, und ebenso die Absatzmärkte an der Nordsee, aus denen Belgien und die Niederlande hervorgingen, sowie schließlich die Souveränität Londons, für das die Rhein- und Scheldemündungen noch immer die Handelstore zum kontinentalen Europa bilden.

Wenn man also die Frage des Rheins im politischen Kontext stellt und im gegenwärtigen Rahmen unserer nationalen Mentalitäten zu beantworten sucht, gibt es keine Lösung. Deshalb haben wir es vorgezogen, sie auf ein solideres Terrain zu übertragen: das der ewigen Werte eines großen Stroms.

Die große Geschichte des Rheins ist vielmehr eine Geschichte des Geistes (histoire de 1'esprit), der sich als einziger auf den Flügeln des Windes, der Leben spendet und Kulturen verbindet, im gesamten Rheintal von den Alpen bis zum Meer frei bewegen kann - ohne Rücksicht auf Hindernisse, Grenzen, Burgen und Landesfürsten. Es ist eine Geschichte der großen, historisch oder legendär begründeten Mythen, die sich an das Rheingold, an Siegfried oder Hagen - Hitlers Helden -, knüpfen - oder an den schlafenden Barbarossa, an Rudolf von Habsburg oder gar an die große Trias, von der Victor Hugo auf seiner Rheinreise heimgesucht wurde: Caesar, Karl der Große und Napoleon. Wie Robert Minder gezeigt hat, brachten diese Mythen politische Verhaltensweisen und geistige Haltungen hervor; die manchmal gefährlich, auf jeden Fall aber hartnäckig waren. Sie haben genügend Stützpunkte, wo sie sich regenerieren können, bevor sie ihre moralische Eroberung der rheinischen Städte fortsetzen. Diese bilden die schönsten Errungenschaften des großen Stromes. Sie sind auf beiden Ufern lebendig, aktiv und erfolgreich - während jeder Versuch, einen eigenen rheinischen Staat zu gründen, gescheitert ist, und zwar zu allen Zeiten...

So ist es letztlich kein Zufall, sondern vielleicht ein Symbol, daß noch vor der Entstehung der Großindustrie, die zum Ausbau eines internationalisierten Stromes führte, die großen Frankfurter Messen nach und nach und fast ausschließlich zu Buchmessen wurden. Ein großer Markt des intellektuellen Nachschubs, der von allen Druckern, Buchhändlern und Gelehrten Jahr für Jahr mit Spannung erwartet wurde. Und eben diese Erwartungshaltung zeigt, daß die große Geschichte des Rheins - eine Geschichte des Geistes ist."

In der deutschen Neuausgabe kommentiert Peter Schöttler die Position von Febvre:
Der Rhein - ein europäischer Strom

"Die Grundthese des Buches, daß der Rhein nicht bloß ein »deutscher«, sondern ein »europäischer Strom« sei, wirkte in den dreißiger Jahren - zumindest in Deutschland - provokativ. Heute klingt sie fast schon banal, und das ist gut so. Dabei war die Verschiebung der europäischen Achse nach Westen zunächst ein Produkt des Kalten Krieges und der Spaltung Deutschlands, und gerade die konservativsten Kräfte versprachen sich in den 50er Jahren von einem »Rhein-Europa« (Otto von Habsburg) eine Erneuerung der abendländischen Reichsidee. Parallel dazu wurde auf französischer Seite Lamartines Bild vom »Nil des Okzidents« bemüht - die Frontstellung war also klar Febvre selbst glaubte damals nicht mehr an ein föderatives Europa, wie es Demangeon 1932 in den Annales herbeigewünscht hatte: einerseits, weil er die Hegemonie eines einzelnen Landes fürchtete, und andererseits, weil die ökonomischen und politischen Probleme längst planetarische Ausmaße angenommen hätten. Die Entstehung der »Europäischen Gemeinschaft«, die das Alltagsleben in Westeuropa Schritt für Schritt veränderte, hat Febvre nicht mehr erlebt. Europa kennt inzwischen ganz andere Probleme. Aber paradoxerweise werden nicht nur im östlichen Teil unseres Kontinents manche alten Konflikte aufs Neue akut; angebliche Erbfeindschaften, nationale Grenzstreitigkeiten und Religionskonflikte brechen wieder auf. Zu den Aufgaben der Wissenschaft gehört es, die Vorgeschichte solcher Krisen zu untersuchen, um zu einer friedlichen Lösung beizutragen. Der »Kampf um den Rhein«, der über hundert Jahre lang völlig ausweglos schien und trotzdem beigelegt wurde, könnte als mahnendes Beispiel dienen. Und während sich in bezug auf den Rhein - wie viele Publikationen belegen - die »europäische« Perspektive vollständig durchgesetzt hat, könnte jetzt vielleicht auch das von Febvre entworfene Konzept einer »anderen« Geschichte der Grenzmentalitäten neue Aktualität gewinnen. Denn eine solche Mikro-Geschichte von Grenzräumen, für die es bislang nur einige Ansätze gibt, wäre nicht nur für die weitere Entwicklung der deutsch-französischen Integration förderlich, sondern auch für die Annäherung in anderen europäischen Grenzregionen."

aus: Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte, Frankfurt/M (Campus) (2) 1995