Der Graf und seine alten Kanonen
Die wechselvolle Geschichte zweier deutscher Geschütze vor einem Schloß in Burgund

Von AUGUST GRAF KAGENECK
Paris - Falls irgendwann, man weiß es ja nie, eine neue Invasion über Frankreich hereinbrechen sollte - Pierre de Bourgoing, französischer Graf, Schloßherr und eiserner Hagestolz, wüßte sich zu verteidigen. Nicht etwa mit einem Schrotgewehr, sondern zwei in bestem Zustand befindlichen, schußbereiten, bedrohlich am Eingang seines Anwesens aufgebauten deutschen Krupp-Kanonen Kaliber 7,7 Zentimeter aus dem Ersten Weltkrieg.

Pierre de Bourgoing führt sich zurück auf Sebastien le Prestre de Vauban, Frankreichs größten Festungsbauer und Spezialisten der Belagerungsartillerie in den Kriegen des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Auf dessen Konto gehen die Befestigungen so wichtiger Plätze wie Straßburg, Lille, Belfort, Metz und vor allem Verdun, alles waffenstarrende Forts zur Abwehr des unruhigen teutonischen Nachbarn im Nordosten. Vauban hatte 1688 die Belagerung der deutschen Städte Philippsburg, Mannheim und Frankenthal geleitet und seine Artillerie dabei so geschickt zum Einsatz gebracht, daß alle drei Plätze den Franzosen wie reife Früchte in die Hände fielen.

Sein Oberkommandierender, niemand Geringerer als der älteste Sohn des Sonnenkönigs Ludwig XIV. und damit Thronerbe, machte ihm zur Belohnung vier deutsche Beutekanonen zum Geschenk, und Vauban, ein Unbestechlicher, nahm das Geschenk erst an, nachdem es ihm vom König ausdrücklich bestätigt worden war. Die Kanonen kamen auf seinem Besitz, dem Schloß Aunay-en-Bazois in Burgund, zur Aufstellung.

Dort blieben sie nicht lange. 100 Jahre später konfiszierten die Behörden der Revolution die beiden größeren der Geschütze und ließen sie einschmelzen. Die kleineren, zwei zierliche Dinger von der Größe eines Granatwerfers, gerieten in den Besitz eines Nachbarn. Vergebens versuchte Charles Louis David Le Peletier d'Aunay, Urenkel des Marschalls, anstelle der beiden entwundenen Kanonen wenigstens eine Büste seines berühmten Vorfahren für sein Schloß zu bekommen. Er schrieb einen Brief an Kaiser Napoleon, der das Herz des großen Vauban im Invalidendom hatte beisetzen lassen, aber der Korse lehnte ab.

Erst 125 Jahre später erinnerte sich Frankreich der Schuld, die es den Nachkommen eines seiner größten Söhne gegenüber hatte. Premierminister Clemenceau, der große Sieger von 1918, ließ sich aus den zahlreichen deutschen Beutekanonen, die nach dem Waffenstillstand im November 1918 die Straßen und Plätze von Paris zierten, zwei Krupp-Feldkanonen reservieren und schickte sie, von einem huldvollen Schreiben begleitet, nach Aunay. Dort schmückten sie bis 1940 das Eingangstor. Aber dem deutschen Stadtkommandanten von Châtillon-en-Bazois, dem Nachbarort des Schlosses, waren sie ein Dorn im Auge. Er ließ sie fortschaffen und im Hof seiner Kommandantur aufstellen. Dort "klauten" sie die Einwohner eines Nachts, nachdem die Deutschen abgezogen waren, versenkten sie in einem nahen Teich und holten sie erst wieder hervor, als freie französische Truppen die Gegend unter Kontrolle hatten.

Seitdem standen die beiden Beutestücke, ein wenig ramponiert und vom Rost bedroht, nahezu 50 Jahre lang vor dem Schloß - viel bestaunt von Einheimischen wie Touristen. Pierre de Bourgoing hat die Kanonen vor einiger Zeit zu einem Kutschenbauer in die Provence schaffen lassen, wo sie nun spiegelblank geputzt und mit neuen messingbeschlagenen Holzrädern versehen werden. Gleichzeitig betreibt er bei den französischen Behörden die Anerkennung der beiden Stücke als "historische Monumente". Denn so unwahrscheinlich es klingt: Von den vielen tausend Feldkanonen gleicher Bauart, die von der Firma Krupp während des Ersten Weltkrieges ausgeliefert wurden, sind - mit Ausnahme eines Exemplars im wehrtechnischen Museum in Koblenz - Bourgoings Exemplare die einzigen bekannten Stücke, die erhalten blieben.

© DIE WELT, 8.6.1996